Gegen die 3fache Fremdheit

„Seitdem mein Vater an dieser Krankheit leidet, arbeite ich nur noch Teilzeit. Ich bin froh, dass meine Geschwister mich unterstützen, vor allem emotional. Ohne sie wüsste ich nicht, wie ich die ganzen Herausforderungen bewältigen kann.“ Vorsichtigen Schätzungen zufolge leben in Deutschland aktuell etwa 120.000 an Demenz erkrankte Menschen mit Migrationshintergrund.

Als die Diagnose Demenz bei meinem Schwiegervater gestellt wurde, wussten wir nichts über diese Krankheit. Es gab keine Beratungsstelle in der Nähe, wo ich mir Informationen in meiner Muttersprache einholen konnte.

Zitat der pflegenden Schwiegertochter

In Aussagen wie diesen spiegeln sich einerseits Erfahrungen wider, die viele pflegende Angehörige teilen. Andererseits erzählen sie von der besonderen Situation, wenn Menschen mit einem Migrationshintergrund an einer Demenz erkranken. Gamze Keser, Managerin des Zentrums für Altersmedizin, hat sich im Rahmen einer Projektarbeit für ihr Masterstudium mit der Situation Demenzerkrankter und pflegender Angehöriger mit Migrations-hintergrund beschäftigt und fünf Familien mit türkischen Wurzeln in Leipzig interviewt. 

Es tut weh, zusehen zu müssen, wie er abbaut. Für ihn ist jeder Tag gleich, es gibt fast keine Abwechslung, alles ist monoton.

Zitat der pflegenden Ehefrau

Viele Betroffene verlieren bereits in einem relativ frühen Krankheitsstadium die erlernte Sprache.

Früher Verlust der erlernten Sprache

So wie Gamze Keser und den interviewten Familien in ihrer Projektarbeit geht es hierzulande vielen. Derzeit leben etwa 19 Millionen Menschen mit Migrationshintergrund in Deutschland. Zirka 2 Millionen davon sind älter als 65 Jahre. Sie weisen einer Studie des Robert Koch-Instituts aus dem Jahr 2008 zufolge erhöhte Gesundheitsrisiken auf und sind armutsgefährdeter als ältere Menschen ohne Migrationshintergrund. In der Folge altern sie schneller und sind stärker gefährdet, an einer Demenz zu erkranken. „Expert*innen sprechen in diesem Zusammenhang von einer dreifachen Fremdheit. Sie entsteht durch den demenzbedingten Verlust von Kompetenzen, durch die nachlassenden Fähigkeiten im Alter und drittens durch die besondere Situation des Heimatverlustes durch Migration“, erklärt die Zentrumsmanagerin. „Zum Beispiel verlieren viele Betroffene bereits in einem relativ frühen Krankheitsstadium die erlernte Sprache.“

Früher Verlust der erlernten Sprache

So wie Gamze Keser und den interviewten Familien in ihrer Projektarbeit geht es hierzulande vielen. Derzeit leben etwa 19 Millionen Menschen mit Migrationshintergrund in Deutschland. Zirka 2 Millionen davon sind älter als 65 Jahre. Sie weisen einer Studie des Robert Koch-Instituts aus dem Jahr 2008 zufolge erhöhte Gesundheitsrisiken auf und sind armutsgefährdeter als ältere Menschen ohne Migrationshintergrund. In der Folge altern sie schneller und sind stärker gefährdet, an einer Demenz zu erkranken. „Expert*innen sprechen in diesem Zusammenhang von einer dreifachen Fremdheit. Sie entsteht durch den demenzbedingten Verlust von Kompetenzen, durch die nachlassenden Fähigkeiten im Alter und drittens durch die besondere Situation des Heimatverlustes durch Migration“, erklärt die Zentrumsmanagerin. „Zum Beispiel verlieren viele Betroffene bereits in einem relativ frühen Krankheitsstadium die erlernte Sprache.“

Seitdem mein Vater an dieser Krankheit leidet, arbeite ich nur noch Teilzeit. Ich bin froh, dass meine Geschwister mich unterstützen, vor allem emotional. Ohne sie wüsste ich nicht, wie ich die ganzen Herausforderungen bewältigen kann.

Zitat der pflegenden Tochter

„Zu diesem Thema bin ich durch eigene Erfahrungen gekommen“, erzählt die 29-jährige Pflegewissenschaftlerin, die selbst aus einer türkischstämmigen Familie kommt. „Mein Großvater war lange pflegebedürftig und dement. Die Pflege übernahmen meine Mutter und meine Tante. Da ist mir zum ersten Mal aufgefallen, wie wenig Angebote es für Demente mit Migrationshintergrund gibt. Mein Großvater hat im Zuge der Demenz die erlernte deutsche Sprache wieder verloren. In den Betreuungsangeboten, die es gab, verstand er niemanden und wurde auch nicht verstanden.“ 

Gamze Keser, Gesundheitsmanagerin (B. Sc.), Pflegewissenschaftlerin (M. A.)
Telefon 034203 4-2124, gamze.keser@sana.de

Sprach- und kultursensible Angebote

Um diese Demenzerkrankten und ihre pflegenden Angehörigen aufzufangen, braucht es eine Versorgungsstruktur, die die sprach- und kulturspezifischen Bedürfnisse berücksichtigt. Das Zentrum für Altersmedizin geht erste Schritte in diese Richtung. Dafür steht das Zentrum in engem Austausch mit dem Dachverband sächsischer Migrantenorganisationen, der Landesinitiative Demenz Sachsen und der Organisation Demenz Support Stuttgart. Im Herbst 2019 haben bereits zwei Workshops mit dem Schwerpunkt „Demenz und Migration“ stattgefunden. Dabei konnten erste Maßnahmen zur Bedarfsermittlung und zum Auf- und Ausbau migrationssensibler Angebote auf den Weg gebracht werden. Über die Website des Zentrums stehen bereits verschiedene Informationsmaterialien in russischer, polnischer, türkischer und italienischer Sprache bereit. Und sobald es die Coronalage wieder zulässt, sind weitere Veranstaltungen zu diesem Thema geplant. „Mein Traum ist es, dass die Interessen demenziell Erkrankter mit und ohne Migrationshintergrund stärker öffentlich vertreten werden, dass ihre Bedarfe wahrgenommen werden und wir eine Versorgungsstruktur schaffen können, die diese Patient*innen und ihre Angehörigen abholt“, sagt die Zentrumsmanagerin. 

Das Zentrum für Altersmedizin ist Leiteinrichtung des geriatrischen Netzwerkes „GeriNah“ in der Region Leipziger Land

Zu diesem Netzwerk gehören Akutkliniken, Rehabilitationseinrichtungen, Pflegeheime, ambulante Pflegedienste, Hospize, Wohlfahrtsverbände und Kommunen. Aufgabe des Netzwerkes ist die Verbesserung der medizinischen und sozialen Versorgungsqualität älterer und multimorbider Menschen. Dazu trägt vor allem die Zusammenarbeit medizinischer Leistungserbringer im ambulanten, teilstationären, stationären und rehabilitativen Bereich bei. 

Aktivitäten des Netzwerkes sind:

  • Gegen die dreifache Fremdheit: Entwicklung kultursensibler Betreuungs- und Beratungs­strukturen für Demenzerkrankte mit Migrationshintergrund
  • DiGeNa (in Kooperation mit dem Leipziger IT-Unternehmen vital.service GmbH): Entwicklung eines einrichtungsübergreifenden digitalen Kommunikationswegs für eine optimale geriatrische Versorgung auch in strukturärmeren ländlichen Regionen und im Pandemiefall
  • eMMa (in Kooperation mit dem Leipziger IT-Unternehmen vital.service GmbH):
    Erprobung einer App zur digitalen Erfassung von Medikationsplänen mit dem Ziel,
    die Arzneimittelsicherheit zu erhöhen
  • Entwicklung von einrichtungs- und strukturübergreifenden Versorgungspfaden zu den
    Gesundheitsthemen Demenz/Delir, Sturz, Mangelernährung, Medikamentenversorgung
  • GeriNurse: Eine geriatrisch spezialisierte Fachkraft steht kontinuierlich mit den Fachabteilungen der Klinik in Kontakt. Für eine bestmögliche Gesamtbehandlung erfasst sie den alters­medizinischen Therapiebedarf älterer Patient*innen gleich bei Aufnahme ins Krankenhaus

Stand: 25.01.2022

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